14.07.2023 | Politik

Gespräch und Einschätzung zu den Wahlen 2023

Der Genfer Politologe Nenad Stojanović gibt im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA seine Einschätzungen zum Ausgang der Eidgenössischen Wahlen 2023, mit Blick auf die Bundesratswahlen. Das Gespräch führten die beiden für die Wahlen Verantwortlichen, Eva Surbeck (su) und Christian Rovere (ro).


Foto: KEYSTOINE / Alessandro della Valle
Foto: KEYSTOINE / Alessandro della Valle



Wer wird die zweitstärkste Partei im Land? Das Rennen um den Platz hinter der SVP, die wählerstärkste Partei bleiben dürfte, könnte für die Zusammensetzung des Bundesrates entscheidend sein, erwartet Nenad Stojanović. Hundert Tage vor den eidgenössischen Wahlen erwartet er ein hartes Duell der FDP mit der SP. Im Oktober 2022 lagen die beiden Parteien praktisch gleichauf, mit Wähleranteilen von um die 16 Prozent.

Eine neue Sitzverteilung?

«Es ist klar, dass das Rennen hier läuft», sagt Stojanović. Die Bundesratswahlen im Dezember zeichneten sich bereits ab im Hintergrund des Wahlkampfes. Die Ankündigung von SP-Bundesrat Alain Berset, nicht zur Wiederwahl anzutreten, verpasste dem Wahlkampf einen zusätzlichen Dreh. Bleibe die SP zweitstärkste Partei, werde die Argumentation schwierig, dass die SP in der Regierung übervertreten sei und der FDP zwei der sieben Sitze zustünden, sagt Stojanovic. In diese Richtung weist die jüngste Umfrage im Auftrag der SRG: Die FDP liegt bei unter 15 Prozent, während sich die SP 18 Prozent nähert.

Würde die FDP die SP allerdings überholen, würde der Appetit auf den SP-Sitz wachsen, und jene Grünen, die einen Angriff auf die SP mit einer eigenen Kandidatur nicht ausschliessen, würden darin bestärkt. Zumindest Fraktionschefin Aline Trede hat es vor kurzem nicht ausgeschlossen, auf Kosten der SP in die Regierung einzuziehen.

Für Stojanovic ist es noch zu früh, zu sagen, wie sich darob der Wahlkampf entwickelt. Die Kampagne werde erst nach den Sommerferien den Höhepunkt erreichen, sagt er. Es sei aber sehr gut vorstellbar, dass die SP die Gelegenheit nutze, um neben Sachthemen auch ihre Präsenz in der Landesregierung zu verteidigen.

Das Gewicht des Ständerates

Es zählten ja nicht Wähleranteile allein, erinnert Stojanović ans Wahlverfahren. Massgebend seien auch nicht nur die Sitze im nach Parteiproporz besetzten Nationalrat, sondern auch jene im Ständerat. «Man neigt dazu, zu vergessen, dass es auf die Sitzzahl in der Bundesversammlung ankommt.» Im Ständerat seien FDP und Mitte-Partei übervertreten. Dies könnte sich im Oktober noch verstärken, denn der SP drohten weitere Sitzverluste in der kleinen Kammer.

Zwei Mandate - jene des Freiburger Ständerates Christian Levrat und des St. Gallers Paul Rechsteiner - hat die SP in der laufenden Legislatur schon an die Mitte und die SVP verloren. Leer ist seit April zudem der Stuhl der Tessiner SP-Politikerin Marina Carobbio Guscetti, die in die Kantonsregierung gewählt worden ist. Stojanović erwartet, dass die Sozialdemokraten Mühe haben dürften, den Tessiner Ständeratssitz zu halten. Weitere schwierige Ständeratswahlen erwarteten die SP insbesondere in den Kantonen Bern und Solothurn. Zurzeit hält die FDP in beiden Kammern zusammen 41 Sitze und die SP deren 45.

Wohl keine neue «grüne Welle»

Käme die FDP also nach den Wahlen auf mehr Mandate als die SP, gäbe es ein zusätzliches Argument, den zweiten Bundesratssitz der SP infrage zu stellen. Bliebe aber die SP nach Mandaten zweitgrösste Partei, würde es schwieriger für jene Kräfte, die die SP-Vertretung in der Regierung auf eine Person reduzieren wollten. Eine festgeschriebene Regel für die Zusammensetzung des Bundesrates gebe es nicht, gibt der Politologe ausserdem zu bedenken. Jede Partei interpretiere die Formel nach Kriterien, die ihr nützten, und versuche so, die Bettdecke auf die eigene Seite zu ziehen.

Die kantonalen Wahlen und auch Umfragen deuteten zurzeit darauf hin, dass es im Oktober keine Überraschungen wie die «grüne Welle» von 2019 geben werde, sagt Stojanovic. Im Gegenteil: Es gebe Indizien, dass die Grünen nicht alle ihre Sitze halten könnten. Gemäss neusten Umfragen könnten sie zwei bis drei Prozentpunkte einbüssen.

Die Grünliberalen hingegen dürften weniger Mühe bekunden und ihre Sitzzahl halten oder gar leicht vergrössern können. Ihr Formstand könnte der FDP gefährlich werden, zumal die FDP beim Thema Klimaschutz nicht geeint ist. Stabilität wird auch für die anderen zwei grossen Parteien erwartet. Bei der SVP gibt es kein Indiz für einen Abschwung. Sie könne mit der Migration mobilisieren, einem Thema weit oben auf der Sorgenliste der Schweizerinnen und Schweizer, sagt Stojanović.

Mitte auf Platz drei?

Auch die Mitte-Partei - entstanden aus der CVP und der BDP - sollte die 13 bis 14 Prozent Wähleranteil halten können, die die zwei Parteien 2019 gemeinsam erzielt haben. Sollte die Mitte-Partei die FDP überholen, wäre das für die Freisinnig-Liberalen eine Ohrfeige.

Ausserdem würde das den Druck auf die FDP-Doppelvertretung im Bundesrat erhöhen. Es würde in den Augen von Stojanović nicht als logisch empfunden, wenn die dannzumal drittgrösste Partei nur einen Sitz in der Regierung hätte und die FDP deren zwei. Übrigens hat die Mitte-Partei in der Bundesversammlung schon heute ein Mandat mehr als die FDP, nämlich deren 42. (su/ro)

Foto: KEYSTONE / Alessandro della Valle
Foto: KEYSTONE / Alessandro della Valle