26.07.2023 | Faktencheck

IQ ≠ Analphabetismus

Im Mittelalter sowie in der frühen Neuzeit war das Schulwesen in der Hand der Kirche, bis der Staat den kirchlichen Einfluss zurückdrängte. Ende des 19. Jahrhunderts wurde in der Schweiz die Schulpflicht eingeführt. Heute setzt sich die obligatorische Schule aus Primarstufe und der Sekundarstufe 1 zusammen, die Kompetenzen im Bildungsbereich werden zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden aufgeteilt. 


Grundkurs für Illettristen an der kantonalen Berufsschule für Weiterbildung EB Zürich am 16. September 2004. Illetrismus ('funktionaler Analphabetismus') beschreibt die Tatsache, dass Erwachsene zwar eine Landessprache sprechen und die obligatorische Schulzeit absolviert haben, aber die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen dennoch nur schlecht beherrschen. Foto: Keystone-SDA / Gaëtan Bally
Grundkurs für Illettristen an der kantonalen Berufsschule für Weiterbildung EB Zürich am 16. September 2004. Illetrismus ('funktionaler Analphabetismus') beschreibt die Tatsache, dass Erwachsene zwar eine Landessprache sprechen und die obligatorische Schulzeit absolviert haben, aber die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen dennoch nur schlecht beherrschen. Foto: Keystone-SDA / Gaëtan Bally
Behauptung

In den sozialen Medien wird eine Weltkarte verbreitet, aus der angeblich der durchschnittliche IQ jedes Landes ablesbar ist. Woher die Daten stammen, ist nicht ersichtlich. Der Kommentar dazu: «Man liest immer wieder: Immer mehr Schweizer werden Analphabeten... dabei ist es genau umgekehrt.»

Beurteilung

Ein Ländervergleich, wie ihn die Karte suggeriert, ist nicht aussagekräftig. Zudem gibt es keinen Zusammenhang zwischen IQ und Analphabetismus. Wer keine Lese- und Schreibkompetenzen erworben hat, ist Analphabet - unabhängig von seinem IQ.

Sachlage

Analphabetismus hat keinen Zusammenhang mit dem IQ, schreibt Christian Maag vom Schweizerischen Dachverband Lesen und Schreiben auf Anfrage von Keystone-SDA.


Der IQ ist laut spektrum.de ein «Vergleichsmass, das angibt, wie die intellektuelle Leistungsfähigkeit einer Person relativ zu derjenigen einer vorab bestimmten Vergleichsgruppe liegt, deren durchschnittlicher IQ auf 100 festgesetzt wird». Bei einem IQ von über 130 wird von Hochbegabten gesprochen, bei einem IQ unter 70 von Minderbegabten. Etwa 68 Prozent der Vergleichsgruppe hat einen IQ zwischen 85 und 115.


Hingegen steht Analphabetismus für fehlende Lese- und Schreibkenntnisse. Trotz Schulpflicht verfügen auch in der Schweiz etliche Menschen nicht über die Lese- und Schreibkompetenzen, die von ihnen erwartet oder gefordert werden. Dies wird Illettrismus oder funktionaler Analphabetismus genannt.


Personen, die von Illettrismus betroffen sind, kennen das Alphabet, haben aber trotz Schulbesuch Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben, schreibt Maag. Analphabeten sein hingegen gar nicht oder aber in einem hierzulande nicht verwendeten Schriftsystem geschult worden.


Mit dem vermehrten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Alltag sind die Anforderungen an die Lese- und Schreibfertigkeiten stark gestiegen. «Die Gefahr, [dadurch] von relevanten Lebensbereichen ausgeschlossen zu werden, hat im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich zugenommen», warnt der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben.


Der Bund geht davon aus, dass rund 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben. Zum Illetrismus gibt es nach Angaben des Schweizerischen Dachverbandes Lesen und Schreiben seit 2004 keine aktuellen Zahlen, die nächste repräsentative Studie soll voraussichtlich Ende 2024 erscheinen.


Auf der Seite des EDA heisst es in einem älteren Artikel, dass in der Schweiz Schätzungen zufolge 800’000 Personen von Illettrismus betroffen sind, also etwa jeder sechste Erwachsene. Das Bundesamt für Statistik (BFS) schreibt auf Anfrage von Keystone-SDA, dass weder Daten zum Intelligenzquotienten noch zu Analphabetismus erhoben würden.


Ländervergleich beim IQ irreführend


Durch eine Foto-Rückwärtssuche lässt sich ermitteln, dass die Grafik mit den angeblichen durchschnittlichen IQ-Werten bereits seit längerem im Internet kursiert, der älteste zu findende Blog-Beitrag stammt aus dem Jahr 2008. Eine Quelle für die Daten fehlt auch hier.


Laut Elsbeth Stern von der ETH Zürich gibt es keine Organisation, welche weltweit vergleichende Intelligenztests durchführt. Die Intelligenz hänge von der Schulbildung ab, daher könne kein sinnvoller Ländervergleich vorgenommen werden, erklärt die Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung gegenüber Keystone-SDA. Auch die OECD verneinte auf Anfrage, über derartige Daten zu verfügen.


Bei Intelligenztests werde die Schulleistung erfasst, doch diese sowie die Bildungsqualität und Bildungschancen unterscheiden sich von Land zu Land, erläutert Stern. Zwischen Ländern mit ähnlichen Bildungschancen können Vergleiche vorgenommen werden, im globalen Vergleich führen diese jedoch zu Verzerrungen.